Intolleranza 1960

Salzburger Festspiele, Sommer 2021

Azione scenica in zwei Teilen (1961)
nach einer Idee von Angelo Maria Ripellino

Libretto von Luigi Nono unter Verwendung von Texten von Henri Alleg, Bertolt Brecht, Paul Éluard, Julius Fučík, Wladimir Majakowski, Angelo Maria Ripellino und Jean-Paul SartreNeuinszenierung

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Intolleranza 1960 ist eine Oper, die mehr Fragen aufwirft, als dass sie Antworten gibt. Kann man dieses Werk überhaupt eine Oper nennen? Oder hat sie uns etwas viel Wichtigeres zu sagen? Verändert sich ihre politische Aussage, wenn man sie heute aufführt, als Intolleranza 2021? Der italienische Komponist Luigi Nono strebte nach einer neuen Form des Musiktheaters, das mit der menschlichen Stimme, mit simultanen Abläufen und mit räumlichen Klangwirkungen experimentiert und diese auf einzigartige Weise zur Geltung bringt. Nono lehnte die tradierten Opernkonventionen ab und stand anfangs der Zweiten Wiener Schule um Arnold Schönberg, Alban Berg und Anton Webern nahe. Er erforschte neue Kompositionstechniken, verwendete in seinen Stücken elektronische Musik und Tonbandaufzeichnungen und nannte sie „Situationen“ oder „azione scenica“ (Bühnenhandlung). Dieser dramaturgische Ansatz machte Nono zu einem Erneuerer, wobei seine musikalische Weltsicht stark von seinen politischen Ansichten beeinflusst war. Als junger Partisanenkämpfer war er in den letzten Tagen der Mussolini-Diktatur in die italienische KP eingetreten, als die Mitgliedschaft in dieser Partei eine Straftat bedeutete. Nono ging es um die gesellschaftliche Relevanz seiner Musik, um „engagierte Musik“, die sich nicht nur in ästhetischen Formen erschöpft, sondern eine unmittelbare Wirkung auf ihre Zuhörer haben sollte. Er wollte alle sozialen Schichten ansprechen.
Intolleranza 1960 war Nonos erstes Musiktheaterwerk und entstand im Auftrag des 24. Internationalen Festivals für zeitgenössische Musik der Biennale von Venedig, in dessen Rahmen es vor 60 Jahren im Teatro La Fenice uraufgeführt wurde. Man würdigte es als einen wichtigen Beitrag der Nachkriegsavantgarde und ein Schlüsselwerk in Nonos erster Schaffensphase. Das Libretto nach einer Idee von Angelo Maria Ripellino verfasste Nono selbst. Er verarbeitete darin Essays und Gedichte von Julius Fučík, Henri Alleg, Jean-Paul Sartre, Paul Éluard, Wladimir Majakowski und Bertolt Brecht. Es handelt von einem namenlosen Auswanderer, der in seine Heimat zurückkehrt. Auf seiner Reise gerät er in eine Demonstration und wird — obwohl er unschuldig ist — festgenommen, gefoltert und in ein Konzentrationslager gebracht. Sein Heimweh schlägt um in Sehnsucht nach Freiheit. Es gelingt ihm die Flucht, doch das Schicksal trifft ihn in Form einer Flutwelle, die eine humanitäre Katastrophe auslöst.
Intolleranza 1960 musste diverse Widerstände überwinden, die sich schon vor der Premiere abzeichneten: Zum einen verlief die Zusammenarbeit von Nono und Ripellino nicht wie geplant, woraufhin Nono eine neue Textfassung erstellte, die der Vorsitzende der Biennale zu zensieren versuchte. Zum anderen sorgten bei der Premiere Neofaschisten für Störungen und überschütteten das Stück mit Häme. Die „azione scenica“ spiegelt Nonos Unzufriedenheit mit den herrschenden Machtverhältnissen wider; sie besteht aus allegorischen Episoden, in denen die Absurditäten des täglichen Lebens angeprangert werden. Das Werk ist ein leidenschaftlicher Protest gegen Rassismus, Intoleranz, Unterdrückung und die Verletzung der Menschenwürde, wobei die Umweltkatastrophe am Ende der Handlung das Werk mit heutigen Diskursen verknüpft. Nono schrieb: „Intolleranza 1960 ist das Erwachen des menschlichen Bewußtseins eines Mannes, der sich gegen den Zwang der Bedürfnisse erhebt und einen Sinn, eine ,menschliche‘ Grundlage des Lebens sucht. Nachdem er einige Erfahrungen der Intoleranz und der Angst durchlitten hat, ist er dabei, eine menschliche Beziehung zwischen sich und den anderen wiederzufinden […]. Es bleibt die Gewißheit, daß der ,Mensch jetzt dem Menschen ein Helfer ist‘.“
Nonos Werke waren in den letzten drei Jahrzehnten in Salzburg immer wieder in beispielhaften Produktionen zu erleben. Dirigent Ingo Metzmacher, ein profunder Kenner von Nonos Musik, betont, dass für ihn Nonos „Werk und sein Vermächtnis […] so etwas wie ein Leitstern“ seien. Jan Lauwers hat sich zuletzt intensiv mit der Bedeutung von politischer Kunst beschäftigt; seine Erkenntnisse werden auch in die Neuinszenierung einfließen: „Politische Kunst negiert die Ästhetik der Politik. Dabei ist Kunst immer politisch.“

Fotos by Claudia Topel für FJSmedia

Foto by Ewa Blauth für FJSmedia