Der Ignorant und der Wahnsinnige

Annett RennebergKönigin der Nacht
Christian GrashofVater
Sven-Eric BechtolfDoktor
Barbara de KoyFrau Vargo
Michael RotschopfKellner Winter

1972 wurde Thomas Bernhards Der Ignorant und der Wahnsinnige als Auftragsarbeit der Salzburger Festspiele uraufgeführt. Der Salzburgbezug ist offensichtlich: das Stück spielt zum Teil in der Garderobe einer Sängerin, die in Mozarts Zauberflöte die Königin der Nacht singt; ebenso sind die Schimpfkanonaden gegen eine marode Kulturindustrie unschwer als sarkastische Invektiven gegen den Festspielbetrieb zu erkennen. Allerdings kam es damals nur zu einer einzigen Aufführung. Aufgrund der österreichischen Gesetzeslage war es unmöglich, die am Ende des Stückes vorgeschriebene absolute Dunkelheit eintreten zu lassen. Daraufhin zogen Autor und Regisseur die Aufführung zurück. Das Ganze wurde als Salzburger „Notlicht-Skandal“ weithin publik, und es fehlte nicht an hämischen Bemerkungen von Kritikern Bernhards oder des Stückes, die darin eine geschickte Marktstrategie und den Beginn einer Legendenbildung sahen. Beides können wir getrost vergessen. Die Häme sowie den Skandal. Und auch der Salzburgbezug ist heute nur noch eine, wenn auch originelle, Nebensächlichkeit. Das Stück hat andere Meriten und ist aufgrund seiner literarischen Qualitäten so frisch und unverbraucht wie am ersten Tag seines Erscheinens.

Es ist in meinem Verständnis die gültige Tragödie der Professionalität, dargeboten als philosophische Komödie. In der Garderobe der gefeierten Sängerin, die heute zum 222. Mal die Partie der Königin der Nacht singt, warten ihr blinder und trunksüchtiger Vater und ihr Freund, ein leidenschaftlicher Pathologe, auf sie. Da die Sängerin seit einiger Zeit in der Krise ist und immer später ins Theater kommt, versucht der Arzt den nervösen Vater zu beruhigen, indem er ihm eine Sektion, eine Leichenöffnung, vorträgt, unterbrochen von Wiederholungen des Vaters, Auslassungen des Doktors über die Alkoholsucht des Vaters, die Rücksichtslosigkeit der Tochter, ihr schwieriges Künstlertum andererseits und allgemeine Suaden über den Kulturbetrieb.

Die Sängerin erscheint, viel zu spät, muss von ihrer Privatgarderobiere, Frau Vargo, in aller Hast angekleidet und geschminkt werden und erreicht so gerade noch rechtzeitig die Bühne zu ihrem ersten Auftritt.

Im zweiten Teil soupieren die drei nach der Vorstellung im Restaurant „Die drei Husaren“ und werden vom Kellner Winter bedient. Der Doktor setzt seinen

Sezierungsvortrag fort, der Vater trinkt hemmungslos weiter, die Sängerin beklagt sich über den unerträglichen Leistungsdruck, wird immer stärker von einem Husten geplagt, überlegt, ob sie mit Singen aufhören soll, und sagt mit Hilfe Winters telegrafisch (wir sind im Jahr 1972) alle weiteren Auftritte ab. Schließlich bricht sie in der intensiver werdenden Dunkelheit zusammen. Wir erleben nicht nur die vordergründige Geschichte von Leistungsdruck und Spezialistentum, von Entmenschlichung und Kommunikationsverlust, wir erleben vor allem ein hochintellektuelles und vergnügliches Spiel über das entfremdete Verhältnis von Außenwelt und Innenwelt, ein Spiel über ein soziales Modell – Vater, Tochter, Freund – das in allen ibsenschen und strindbergschen Schattierungen bis zum Inzestverdacht durchgespielt wird, wir erleben den Totentanz dreier isolierter Existenzen – alle verbunden durch den mörderischen Zwang der Wiederholung; Wiederholung nicht als ermüdendes Routineritual, sondern als Verpflichtung zur Perfektion, die in letzter Konsequenz alle in den Wahnsinn treiben muss: Ausdruck der Schizophrenie einer Kultur, die sich von aller Natur losgesagt hat. Und wir erleben ein artifizielles Sprachspiel, eine Oper für Schauspieler, die nicht nur lustvoll die Zauberflöte dekonstruiert und parodiert, sondern die es schafft, den trockenen Inhalt eines Pathologiebuches in Arien zu verwandeln und das gesamte Sprachmaterial des Stückes mit Mitteln der musikalischen Rhetorik strukturiert und so der Molltonart der Dunkelheit die Durtonart der gelungenen Dichtung, des heiteren Musizierens an die Seite stellt.

Ambiguität ist stets das Zeichen einer philosophischen Grundhaltung, und so wie Bernhard es in vielen seiner Stücke, besonders aber in diesem, schafft, die Perspektiven des Ganzen und des Einzelnen, also des Tragischen und des Komischen, einander bis zur Vertauschbarkeit anzunähern, so ist diese Tragödie der déformation professionnelle gleichzeitig eine Komödie.

„Das Märchen ist ganz musikalisch.“ Dieser Satz von Novalis ist dem Stück als Motto vorangestellt und er verweist nicht nur auf die Verbindung Bernhards zur Romantik, zur Trauer über den Riss durch Natur und Mensch, sondern er lässt – bei aller Rabulistik Bernhards, ob als Lachphilosoph oder als Hasspredriger – einen dünnen Spalt der Utopie offen, den der Musik.

Auch wenn die verdinglichte Sprache nicht mehr zur Musik finden kann, in der Beziehung des Doktors zur Sängerin, einer zum Scheitern verurteilten, verzerrten Tamino/Pamina-Beziehung, bleibt die verzweifelte Sehnsucht spürbar, die Sehnsucht Tristans und Isoldes, dass die Krankheit ihre musikalische Auflösung finden möge.

Die Panik vor der Eiseskälte der Vereinsamung, vor der Unmöglichkeit, mit Worten eine Brücke zum Anderen zu bauen, erzeugt diese Schutzwälle logorrhoischer Wortakrobatik, aber manchmal fügen sich die Wörter, wie Bernhard es einmal nannte, zu einer „Notenschrift der Angst“.

Fotos: Ewa Blauth (bitte beachten Sie das Copyright bei Veröffentlichung)
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